Es ist der 8. Tag der unfreiwilligen Isolation.
Gestern saß ich ein wenig an der Sonne auf dem Balkon. Gegen 5 Uhr sieht man normalerweise 4 oder 5 Flugzeuge in großer Höhe vorbeiziehen. Nun war es nur noch ein einziges Flugzeug, das von Südosten kam. Kurz danach ein Flugzeug der Luxair, im Landeanflug zum hiesigen Flughafen. Ab Montag stellen sie den Flugbetrieb ein. Wer will oder darf jetzt noch fliegen?
Die Versammlungsfreiheit ist aufgehoben. Wollen wir uns verschwören, einen Umsturz vorbereiten? Sich versammeln können gehört zu unserem Leben als selbstverständlich. Ich will gerne darauf verzichten, wenn es um Leben und Tod geht. Ja, darum geht es: Leben und Sterben.
In Camus' Pest berichtet der Journalist Tarrou von seinen Recherchen über die Situation in der Stadt.
Camus schreibt bedächtig, wie in einem Schulaufsatz; die Entwicklung der Gedanken und der Begegnungen sind voraussehbar. Doch die «story» ist packend: die langsame Veränderung des Lebens und der Gewohnheiten der eingeschlossenen Bewohner von Oran.
Es ist der 9. Tag der unfreiwilligen Isolation.
Die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenlos und blau. Hummeln fliegen herum. Jetzt ist die Zeit zum Briefe schreiben; an die Freunde, an die Freundinnen irgendwo in Deutschland, in der Welt. Ich schicke einige kleine Heftchen zu ihnen, als Zeichen der Freundschaft und der Erinnerung.
10. Tag.
Ist heute Mittwoch? Ja, heute ist Mittwoch. In Camus' Pest wird klar, dass immer mehr Menschen an einem seltsamen Fieber sterben. Dr. Rieux wird gefragt, ob er ein Fatalist sei. Nein, er sei kein Fatalist - er kämpft um 'seine' Kranken.
Werde ich diese ganze Geschichte lesen können, jeden Abend ein, zwei Seiten?
Wir waren damals gerade aus Athen zurückgekommen.
Ist das nicht ein Satz, der uns mit Wehmut erfüllt? Weil es darin das Wort damals gibt: vor langer Zeit, aber wir erinnern uns. Wir erinnern uns an diese Ausflüge, an diese Reisen, an diese verflossenen, zurückliegenden Jahre. Es könnte auch heißen «... aus Paris zurückgekommen, aus Barcelona zurückgekommen, aus London zurückgekommen, aus Tokio, aus New York, aus Venedig.» Oder aus Puttelange, oder Souillac, Bordeaux, aus Rom, Lissabon, welche Stadt, welcher Ort kommt dir in den Sinn, von dem du träumst, immer wieder träumen wirst, weil du ihn verlassen hast.
Wieder, nach etlichen Tagen, einige Augenblicke auf dem Balkon, ganz wenig Sonne, als wäre es die Wintersonne. Gibt es nicht ein Bild von Gauguin aus der Südsee - «Wohin gehen wir, wo sind wir, woher kommen wir?» oder so ähnlich. War er dort glücklich? Glücklicher wohl als in Paris. Wohin gehen wir, woher kommen wir? Ja, wohin gehen wir!
Gibt es noch den Weg nach vorne, irgendwohin, wo ich noch nicht gewesen bin?
Der Vogel im Baum, den ich nicht sehe, den ich deutlich hören kann, ein Rotkehlchen vielleicht, singt ein kurzes Lied, immer um diese Zeit: wo sind wir ? Wohin gehen wir?
Vor vier Monaten saß ich hier auf dieser kleinen Mauer am Ordensgut und habe eine Notiz geschrieben. Die fließende Zeit. Jetzt ist es schon Sommer, der Stein ist warm von der Sonne.
Wohin gehen wir, wohin wird es uns verschlagen? Was tun wir, was denken wir, wie groß ist die Angst?
Wohin gehen wir?