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Bernd Mattheus:                       this is about you

 

das menschliche gesicht ist eine leere kraft, ein todesfeld ... es sucht sich noch immer ...

antonin artaud

 

das selbstporträt ist zum markenzeichen, das heißt: gütezeichen des künstlers geworden. es hat insofern signaturcharakter, als es mit der originalität, dem „stil“ des künstlers in eins gesetzt wird. die „signatur“, indem sie die authentizität des bildes bestätigt, ermöglicht es, daß das bild handelsobjekt wird, ermöglicht es ferner, daß der erlös aus dieser ware allein ihrem urheber zufließt. wie der steigende marktwert von fotografien im kunsthandel zeigt, wird es schwerer denn je, sich der urheberfunktion zu entziehen.

 

eine bestimmte art des blicks, eine bestimmte handschrift, ein stil wird mit einem namen identifiziert: subjektivität, die sich im werk konkretisiert, materialisiert und die wiedererkennbar sein soll.

 

das passbild, als wesentlichste und geläufigste identitätsmarke, reduziert subjektivität auf die abmessungen eins fotos, auf dem gesichtspartien sichtbar sein müssen, die behördlich vorgeschrieben sind. das passfoto, nicht allein der eigenname, fixiert mich als das mit mir selbst identische subjekt. normierte identität setzt sich folglich zusammen aus einer korrelation von gesichtszügen und geschlecht (vorname), signatur  und eigenname (so verhalten sich z.b. trans-sexuelle, die sich chirurgischen und medikamentösen maßnahmen unterziehen, um das andere geschlecht in sich zu leben, diesem identitätszwang gegenüber konform). das wiedererkennen liegt in der ära der fotografie ganz auf der seite des fotoporträts. der intime charakter, den porträts einem nahestehender personen besaßen, wich der repräsentation: denn das gesicht ist zum fetisch geworden. ein „autor“ wird heute weniger mit seinem werk den mit seinem porträt identifiziert, mit hilfe eines fotos von ihm erinnert, wiedererkannt. in einem zeitalter, wo fast jede beliebige ware oder dienstleistung mit fotoporträts angepriesen wird, gilt das menschliche gesicht als der signifikant der signifikanten. jene bilderflut setzt  aber gerade das individuelle des menschlichen gesichts herab, macht es nahezu anonym, läßt das gesicht zur toten maske erstarren. (mir fällt es manchmal schwer, jemanden – selbst mich! – anhand von fotos wiederzuerkennen. das foto fixiert posen, typen, es zeigt ausschnitte, es formalisiert, es hält einen augenblick lebens fest, der nicht mehr derselbe ist, wenn ich das foto betrachte. die fotos von verstorbenen, wie man sie an katholischen gräbern findet, sind der prototyp des fotografischen porträts.)

 

wie annette messager, die beliebige passanten fotografiert, um so „ihre“ geschichte zu konstituieren, greift lüthis kunst den repräsentativen charakter des porträts an, ist sie eine geste der identifikationsverweigerung. die eigene, persönliche geschichte sei die der anderen, anonymen fremden („the personal disolves so easily in the typical“).

 

lüthi möchte in seinen fotos nicht die person urs lüthi zeigen, vielmehr  den unbekannten, möglichen anderen, der durch bildunterschriften gelegentlich direkt angesprochen wird („you are not the only who is lonely“). der betrachter sieht somit nicht in einen spiegel, in dem er sich wiedererkennt, doch er ist frei, sich mit zuständen zu identifizieren, die das „modell“ lüthi ins bild gesetzt hat („i’ll be your mirror“).

 

ein mensch darf nicht mehr er selbst sein, wenn er uns damit bekannt machen will, was er in wirklichkeit ist.

 

gemalte porträts dramatisieren die geschichte des subjekts. sie sind notwendigerweise pathetisch. und antizipativ: der porträtierte ähnelt oft erst nach jahren seinem porträt, wenn in seinem gesicht das leben seine todesarbeit geleistet hat.

 

lüthi deckt mit maske und schminke genau diesen betrug des fotoporträts auf: das foto fungiert gleich einem totem gegen unsere sterblichkeit, es schließt das permanente altern aus, es möchte die zeit anhalten. ein eindimensionaler, sich nicht verändernder fetisch aus papier, während der körper langsam verfault. (zudecken, um etwas aufzudecken, sichtbar zu machen: lüthi gebraucht die „gesichtsmaske“, die einer mehrheit zum zudecken des sterbens der haut dient, wider die norm. das geschminkte gesicht, dem man – sei es aus nachlässigkeit, sei es aus willkür – die schminke ansieht, verhöhnt sich selbst.)

 

andererseits: ich fühle, handle gemäß der fotoporträts, die stets ganz anders sind als das „bild“, das ich von mir habe. sich schminken und/oder maskieren heißt, das auf der eigenen haut zu tragen, was man nicht ist – was man wird. (die schminke akzentuiert den erotischen körper. sie wirkt dergestalt auf das selbstgefühl ein, daß sie die gewohnte gestik, mimik, pose verändert. sie fordert den verfemten teil heraus, den, der nicht mit dem selbstverständnis übereinstimmt, im extrem: das andere geschlecht.)

 

daß jede in erscheinung tretende weiblichkeit/männlichkeit maske ist, das demonstrieren die travestien lüthis. aus dem maskenhaften charakter exhibierter feminität erklärt es sich z.b., daß transvestiten in weiblichen rollen glänzen, ja diese unter umständen besser ausfüllen als eine wirkliche frau. allerdings ist es für einen mann schwerer, eine frau zu sein, und das gibt den mimesisanstrengungen der transvestiten etwas pathetisches, tragisches, verzweifeltes.

 

die größte provokation wäre jedoch ein mann, der eine frau mimt, die einen mann mimt. offensichtlich ist diese herausforderung ein anliegen von lüthis travestien. er parodiert jene komödie mit namen geschlechterrollen, er verspottet das ideal eines körperbildes, das unbezweifelbar auf eines der beiden geschlechter verweist. anders als transvestiten oder trans-sexuelle, schreitet lüthi nicht zur transgression: sie würde, da sie sich hier in konformismus verkehrte, seine kunst der lächerlichkeit preisgeben, wirkungslos machen, bezieht sie doch ihre subversive kraft aus dem spannungsverhältnis maskulin-feminin, aus dem nicht-definierbaren, dem beweglichen, dem spiel.

 

gelehrte unterstellen dem „transformer“ ich-schwäche und realitätsverlust, dem ich entgegenstellen möchte, daß das wahre selbstbewußtsein keines ist. einmal entdeckt, wie beträchtlich die eingriffe der gesellschaft – via kommunikation – am eigenen bewußtsein sind, wie fremdbestimmt individuelles empfinden und selbstverständnis sind, sobald man das eine oder andere kommuniziert, gerinnen identität, selbstbewußtsein etc. zur farce.

 

das naturalistische, „monosexuelle“ autoporträt ohne maske lügt, es idealisiert unwillkürlich (warum wirkt sonst das bild stets aufregender, vitaler, „schöner“, als die lebendige person?). jene leeren, befriedigten, „kommunikativen“ gesichter des alltags sind die letzte obszönität, die sich die fashion-kultur gestattet. „maske“ wie schminke dekuvrieren unsere wesentliche einsamkeit, vereinzelheit . die als sentimentalität aus lüthis porträts herausschaut.

 

die maske, die tiernatur, das schweigen, die grimasse, die geste, den pluridimensionalen möglichen menschen konfrontiert mit dem einen, mit sich selbst identischen.

 

märz 1979

insert zu urs lüthi: just another story about leaving, reprint 1979, AQ-Verlag

 

 

 

 

 

Für Bernd Mattheus siehe "Dritter Brief an einen Toten".

 

 

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