Seit 1963 sammelt Paul-Armand Gette Kieselsteine [1] aus den Flüssen und von den Stränden Europas, um sie zu vermessen: er misst ihre Länge, ihre Breite, ihre Höhe und ihren Durchmesser.
Aus den so gewonnenen Werten erzeugt er Tabellen und Diagramme, die die Relationen der einzelnen Messgrößen zueinander aufzeigen.
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Die Sammlung der Kieselsteine der Roten und Weißen Saar (den beiden Quellflüssen der Saar, die in den Vogesen entspringen) spielt mit dem feinen Unterschied, der sich in den beiden Mengen an Kieseln manifestiert.
Warum zeigt uns Paul-Armand Gette die Ergebnisse seiner Messungen?
Das Messen, Abzählen, Aufzeichnen, Vergleichen sind wesentlich menschliche Tätigkeiten. Gettes Untersuchungen sind nachvollziehbar und dadurch objektiv und gehorchen wissenschaftlichen Prinzipien. Eine der wissenschaftlichen Methoden ist das Zingg-Diagramm, bei dem Höhe, Breite und längste Achse in Beziehung zueinander gesetzt werden, um vergleichbare Werte zu erhalten. Das Vermessen ist millimetergenau, es lässt keine Interpretation zu. Unverrückbare Messzahlen werden notiert und in einen gegenseitigen Zusammenhang gebracht.
Als wissenschaftliche Ergebnisse können sie nicht in Frage gestellt werden, ebensowenig wie der Ur-Meter in Paris. Jeder könnte diese Vermessungen nachvollziehen und überprüfen - dieselben Messergebnisse würden sich ergeben.
Doch der Zufall bestimmt die Auswahl der Kiesel; sie sind einzigartig. Ebenso wie Gettes andere wissenschaftliche Aufzeichnungen von Orten, ihren Temperaturen, Luftfeuchtigkeiten und den vorgefundenen Pflanzen und Tieren (zumeist Käfer), sind die Vermessungen nicht wiederholbar: die Dimension der Zeit verhindert eine (identische) Repetition. Während die Temperaturaufzeichnungen an einen Ort, an den Tag und die Stunde gebunden und dadurch einzigartig sind, werden die Kieselsteine irgendwann weggeworfen und sind nicht mehr rückholbar für eine wissenschaftliche Rekonstruktion.
Die Objektivität der Vermessung und der Zufall der gesammelten (Untersuchungs-) Objekte verbinden sich und stehen in einem eklatanten Widerspruch: die Vermessung suggeriert die Wiederholbarkeit (da objektiv), doch die Objekte zeigen sich in ihrer Einzigartigkeit. So bleiben die Resultate der wissenschaftlichen Untersuchung nicht im wissenschaftlichen Raum[3], sondern werden durch ihre Publikation in Büchern, Heften und Ausstellungen (oder als Rezitation von Namenslisten) in den Bereich der Kunst verschoben. Was Wissenschaft war und ist, wird zur Kunst, die die Wissenschaft nutzt.
Bei den botanischen und entomologischen Beobachtungen, die Gette immer wieder durchführt, werden zumeist unspektakuläre Orte aufgesucht. Dazu gehören etwa das Rheinufer bei Mannheim, ein leerer Platz in Oxford, eine Bergehalde oder ein verlassener Strand irgendwo. Genauso unspektakulär, weil allgemein und im Grunde austauschbar, ist das Untersuchungsobjekt Kieselstein. Es dient dazu, die Vermessung, das Erfassen durch Einordnung (Größenklasse, Längenklasse etc.) zu ermöglichen.
Das Vermessen dieser Objekte ist jedoch nutzlos, denn obwohl es wissenschaftlich durchgeführt wird, ist es aufgrund der Eigenart der Objekte ohne Belang und führt zu keinen verwertbaren Erkenntnissen (außer etwa der, dass in der Roten Saar kein vulkanisches Material vorhanden ist und sich spezifische Größenrelationen der Kiesel der Roten Saar anders verteilen als die der Weißen Saar - was aber auch zufällig sein könnte).
Das Vermessen und die Niederschrift der Resultate, das Festhalten der vermessenen Objekte in Form von dokumentarischen Fotografien, all das belegt die Natur von Gettes Unternehmung(en): Es sind einfache menschliche Tätigkeiten, die als künstlerische Tätigkeiten auf das Wesentliche jeder menschlichen Tätigkeit zurückverweisen: der Wiederholung und ihrer Sinnlosigkeit.
Somit werden Gettes Kunst-Produktionen zu einer heimlichen, indirekten Reflexion über das menschliche Leben und unser menschliches Sein.
[1] Eigentlich müsste von Geröll gesprochen werden.
[2] Immer wieder sind Kieselsteine in den Arbeiten etwa mit den kleinen Mädchen eingesetzt. Zu erinnern ist auch an eine Edition von 1978: „Galets, série (illimitée) granit et porphyre“, die aus einem Kieselstein, der in Cellophan eingehüllt ist, und einem kleinen beigefügten Text besteht. Eine (fast) vollständige Übersicht über seine Arbeiten mit Kieselsteinen ist im Anhang aufgelistet (von P.A.G. erstellt).