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Franz Kaiser: Poesie der subversiven Logik

Text für den Katalog "Nymphe, Nymphea et voisinages"(Originalfassung)

Le Magazin, Grenoble, Januar 1989.


Seit etwa 10 Jahren stehen die "kleinen Mädchen" im Zentrum des künstlerischen Interesses von Paul-Armand Gette. Dies hat uns bewogen, mit Hilfe von "Alice" den Nymphen in seinem 40-jährigen Werk auf die Spur zu kommen. Bestärkt hat uns in diesem Vorhaben eine sehr viel ältere Arbeit aus der Serie der "Verkohlungen", "Le tombeau de la Nymphe" (1960). Ihr Datum läßt auf eine stabile Präsenz dieses Fabelwesens in dem offensichtlich so methodischen Werk schließen.


Paul-Armand Gette ist ausgebildet als Entomologe und Botaniker. Schon als Zwanzigjähriger veröffentlichte er seine "Anmerkungen über die Laufkäfer am Rhoneufer in Lyon" im Monatsbulletin der Linné-Gesellschaft seiner Heimatstadt. Für ihn, der nach dem Abschluß seiner Studien fünfzehn Jahre lang als chemischer Ingenieur in Lyon und in Nizza arbeitete und nebenher künstlerisch tätig war, klafften schon damals naturwissenschaftliche Beschreibung und subjektive Wahrnehmung derart auseinander, daß er sich zu Beginn der 60er-Jahre ausschließlich der künstlerischen Tätigkeit verschrieb. Er war sicherlich nicht der erste, der sich an diesem Widerspruch stieß - schon Goethe wollte aus diesem Grunde Wissenschaft im Geiste der Kunst betreiben.

Gette geht den umgekehrten Weg und transponiert wissenschaftliche Methodik in einen künstlerischen Prozeß, indem er sie ihrer Zielgerichtetheit und Systematik beraubt. Er beobachtet, notiert, entnimmt Proben und mißt, weil es ihm Spaß macht oder um die Zeit zu vertreiben. Dahinter steckt die klammheimliche Freude, eine oft allzuernst genommene Wissenschaft zu ironisieren und ihren umfassenden Wahrheitsanspruch in Frage zu stellen.


Der Sinn von naturwissenschaftlicher Systematik ist die Naturbeherrschung; Gettes klammheimliche Freude ist die an systemzersetzenden Strukturen. Daher auch seine Vorliebe für Unkräuter mit exotischen Namen, die er besonders gerne auf asphaltierten Plätzen und in botanischen Gärten aufspürt - "L'exotisme en tant que banalité" (Exotismus als Banalität), 1979. Diese letzteren sind ja das historische Sinnbild des bürgerlichen Naturideals, das die Natur aus der gewonnenen Distanz heraus als harmonische und reine Urform interpretiert, anstatt sie, wie in privaten Kulturen, in ihrer Chaotik und Feindseeligkeit zu sehen.

Die botanischen Gärten präsentieren Pflanzen, ihrem natürlichen Lebensraum enthoben, nach wissenschaftlichen Kategorien geordnet und etikettiert, zur ästhetischen Kontemplation. Die Parallele zur Behandlung von Kunst im Museum ist auffallend.

 
Indem Gette seine exotisch-banalen Aufzeichnungen im Kunstkontext ausstellt, ironisiert er diesen ebenso wie den wissenschaftlichen: Wie er der Wissenschaft ihren Alleinanspruch auf Wahrheit bestreitet, so zieht er den Alleinanspruch der Kunst auf Erfindung in Zweifel. In alter, dadaistischer Tradition jedoch auf eine ihm sehr eigene Weise attackiert er die ideologische Autonomie der Kunst. Andererseits, indem er wissenschaftliche Nomenklatur in der Kunst verwendet - "La nomenclature binaire/Hommage À Carl von Linné", 1975 - weist er die subjektive Komponente und den poetischen Ausdruck der ersteren nach:

"Man erlaube uns, die Wissenschaft nicht von der Kunst zu trennen, denn in der Tat sind die Konzepte, die die Wissenschaft beherrschen, mit einer Schweigsamkeit ausgestattet, so daß uns bewegt und, sofern man bereit ist, es zu hören, ist der wissenschaftliche Diskurs nicht frei von Poesie." (On nous permettra de na pas séparer les sciences des arts, en effet, les concepts qui regissent les premières sont dotés d'une caducité qui nous les rendent émouvantes et le discours scientifique, pour peu que l'on consente à faire l'effort de l'entendre, ne nous semble pas exempt de poésie.) (PAG Kassel, 1978).

Paul-Armand Gette verabscheut Ordnung, begeht jedoch nicht den Fehler, generell Unordnung an Stelle der Ordnung setzen zu wollen. Seine subversiven Angriffe auf festgefügte Wertgebäude entbehren jeder militanten Schwerfälligkeit. Als strategische Ausgangspunkte bevorzugt er Rand- und Übergangsbereiche wieUferböschungen, Waldränder, kleine Mädchen kurz vor oder in der Pubertät: "Der Rand interessiert uns mehr als der Wald, nicht wegen des Pittoresken, sondern nur wegen einer möglichen Situation. Die Marginalität stellt für uns eine bevorzugte Position dar und wir lieben sie extrem; so beispielsweise, begeistert uns, am Strand stehend, angesichts des Meeres, die Abwesenheit der Landschaft." (L'orée nous intéresse plus que la forêt, non pas en raison d'un pittoresque quelconque, mais simplement en tant que possibilité de situation. La marginalité est pour nous une position priviligiée et nous l'aimons extrême; ainsi debout sur la plage, face à la mer, l'absence du paysage nous ravit). (PAG, Kassel 1978).

Diese strategische Position der Marginalität bezieht der Künstler Gette insbesondere zum Kunst-Kontext. Legitimiert sich das autonome, moderne Werk oft erst durch seinen Bezug zur bürgerlichen Institution Kunst - sei es durch inhaltliche Reflexion, sei es einfach dadurch, daß es dort gezeigt wird - so bedürfen die Arbeiten Paul-Armand Gettes nicht dieses symbolischen Bezuges. Es lassen sich zwar zuweilen Anleihen an den Surrealismus, den Nouveau Réalisme bzw. die Konzeptkunst etc. ausmachen, sie sind jedoch von untergeordneter Bedeutung. Diese Arbeiten konstituieren ein eigenes symbolisches System irgendwo zwischen Kunst und Wissenschaft. Paul-Armand Gette hat ein Schema seines Werkes erarbeitet - hauptsächlich um sich, wie er sagt, selbst noch zurechtfinden zu können. Die darin ablesbaren Entwicklungslinien und Bezüge zwischen den einzelnen Werkgruppen sind bestimmt durch sein logisch-assoziatives Denken; die Gesamtstruktur des Schemas erinnert an die eines Stammbaumes; der Werkkörper scheint biologisch gewachsen: unsystematisch und vielfältig, jedoch logisch bei jedem Schritt.

 
Kommen wir jedoch zurück zu Alice: In der poetischen Nonsense-Logik des Charles Lutwidge Dogson alias Lewis Carroll hat Paul-Armand Gette eine Geistesverwandtschaft entdeckt und ganz besonders in dessen Vorliebe für kleine Mädchen. Ihm widmete er 1975 eine Hommage, die zweite nach der schon erwähnten an Carl von Linné. Eine dritte dedizierte er Claude Monet (Nymphea alba L. 1976). Diese Hommages "waren dazu bestimmt, gewisse Mißverständnisse über die Quellen meiner Arbeit aufzuhellen und neue zu schaffen". Sie deuten den Bezugsrahmen an, in dem sich das Werk entwickelt. Referenzen an die Nymphen finden sich in allen drei Hommagen. Sie werden in der Ausstellung hervorgehoben dadurch, daß das "Grab der Nymphe" in deren Mitte steht; der Saal Ia formuliert so das Leitmotiv.


Die Ausstellung versucht nun in 7 Sälen einen systematischen, roten Faden durch das Werk von Paul-Armand Gette zu ziehen. Der Plan der sieben Säle wurde dem Katalog zugrunde gelegt; der rote Faden ist gegeben durch Alice und die Nymphen. Sie sind präsent in den Insektenvergrößerungen - ich erinnere an die wunderbaren Metamorphosen, die Alice im Wunderland erlebt - ebenso wie in den Kristallen. Letztere sind ohne Körper - wie die Kartensoldaten - und durch ihre Transparenz Bild und Spiegelbild gleichzeitig ohne daß auszumachen wäre, für welche Seite die umgekehrte Logik des "hinter dem Spiegel" gilt. Nebenbei kann man durch sie hindurch auch die Natur, oder eine Nymphe betrachten.


In den Filmen (La Plage 23 sept. 1971 + 18°; La plage été… 1973; Le transsect, 1974) treten die Nymphen dann als junge Mädchen auf (Lotta und Bim, Agneta, Christel), um dem Betrachter die Natur vorzuführen. Junge Mädchen sehen besser, in jedem Fall anders als Wissenschaftler.

Wenn Paul-Armand Gette nie ein besonderes Interesse für wissenschaftliche Methoden oder für bestimmte Untersuchungsgegenstände gehabt hat, so hat er ein solches entschiedenermaßen für die kleinen Mädchen, und dies ist seit dem Ende der 70er-Jahre ganz deutlich im Werk sichtbar. Bei der Herausbildung dieses Aspektes seiner Arbeit wird wohl auch jene bubenhafte Freude an Unerlaubtem eine Rolle gespielt haben, denn mit den "Entre jambes" z.B. bewegt er sich auf einem Terrain, das für gewisse, allzu konventionelle Gemüter tabu ist. Diese provokatorische Tendenz wird noch deutlicher bei den mit Seerosen ausstaffierten Badezimmern und Toiletten - "Nympheas et Nymphes, 1984-1986". Ästhetisch unterscheiden sich diese voyeuristischen Arbeiten von den älteren durch eine stärkere Betonung der sinnlichen Betörung. Auf der "Skala" des Ausstellungsplans wird diese Sinnlichkeit rechts vom 0m spürbar sein.


Im letzten Saal stoßen wir auf Vulkangestein. Dies war einmal glühendes, eruptives Magma, worin Paul-Armand Gette einen Ansatzpunkt für sexuelle Metaphorik sieht. Konfrontiert mit dem Videobild bewegungsloser Rosenblätter wird das Ganze zur "Attente des Nymphes", 1988.


In einer Auftragsarbeit zum 200. Jahrestag der französischen Revolution schlägt er eine ironische Metapher vor: "Erruption et solidification", 1988. Sie gibt anregende Denkanstöße bezüglich des Verhältnisses der französischen Zivilisation zu ihrer Revolution im Besonderen sowie bezüglich der Kulturgeschichte der Moderne im Allgemeinen.

Die Trennung von Kunst und Wissenschaft hat sich ja erst in der Moderne voll herausgebildet und durchaus eine Besonderheit des okzidentalen Kulturraumes. Sie ist das Merkmal einer profanen Kultur, die auf rationalen Schemen beruht und sich heute, aufgrund ihres materiellen Erfolges, weltweit durchgesetzt hat. Das Kulturbedürfnis der breiten Masse wird heute befriedigt durch die mediatisierte Kulturindustrie, die gleichermaßen nach rationalen Schemen strukturiert ist. Die Kulturindustrie ist pornographisch und prüde, während Kunstwerke asketisch und schamlos sind. Sie wurden von Anfang an in das Ghetto der autonomen Kunstinstitution ausgegrenzt, wo sie sozial und auch kulturell wirkungslos ist.

Die Gefahren, die in der durch ein einseitig rationalistisches Weltbild verursachten Verfälschung liegen, wurden zwar schon in der Aufklärung erkannt, jedoch immer wieder verdrängt. Heute sind sie in weitem Umfang spürbar. Daraufhin die rationalistische Methode rundherum zu verdammen wäre Unfug. Dies wissen vor allem die Künstler, die nie den Kontakt mit dem Irrationalen verloren haben.

Paul-Armand Gettes anarchischer Versuch der Vermittlung gewinnt heute eine besondere Aktualität, da sie auf der idealistischen Transzendentalphilosophie gegründete, bürgerliche Institution Kunst heute zusehens aus der Mode kommt.

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